21
Es war ein beschwerlicher Ritt nach Champtocé – ein ganzer Tag –, am gefährlichen Hochufer eines Flusses entlang, dessen Erde nur von den nackten Baumwurzeln gehalten wurde. Es schien wider jede Vernunft, dass dieser Pfad sich in solcher Nähe zum Fluss entwickelt hatte und nicht tiefer im Wald, wo der Grund fester war – doch nur, bis man an einem klaren Tag anhielt und nach Südosten schaute. Die Schönheit der Aussicht über die Loire konnte einem den Atem rauben. Aus der Erfahrung von Reisen zwischen Champtocé und Machecoul in meinen jüngeren Jahren wusste ich, dass nach schwerem Regen immer die Gefahr eines Abrutschens des Pfades bestand, doch an diesem Tag war das Wetter gut.
Wir ritten beherzt und kamen gut voran, aber auch der wackerste Reisende muss hin und wieder rasten. Da Frère Demien am Rande meines Gesichtsfelds sein eigenes Geschäft verrichtete, schlüpfte ich in den Wald, um versteckt meinen Bedürfnissen nachgehen zu können. Zweige knackten unter meinen Füßen, als ich mich vom Pfad entfernte; Insekten summten und Vögel riefen, um mein Kommen anzukündigen. Ein Sonnenstrahl fiel schräg durchs Blätterdach; es war alles zu vertraut, und unvermittelt sah ich mich überwältigt von Erinnerungen an mein Leben vor dem Schleier. Empfindungen und Bilder aus früheren Zeiten in diesen Wäldern stürmten mit überraschender Plötzlichkeit und Macht auf mich ein. Ich konnte mich nicht aufrecht halten, sondern sank auf die Knie.
Seine Hand auf meiner, er zog mich, neckte mich, und alles war Lächeln, Lachen, Ausgelassenheit …
Komm, Guillemette, meine hübsche Braut, ich zeige dir ein neues Kunststück, eins, das dir sicher gefallen wird. Wir waren so jung, Etienne und ich, ganz frisch verheiratet und so süß versunken in unserem gegenseitigen Verlangen. Nur zu gern hatte ich mich seinem kecken Wunsch gefügt, aber erst nach einem errötenden Augenblick gespielten Widerstands. Ich schwöre, es geschah bei dieser Gelegenheit, in diesem Wald, auf Moos so weich, ein jedes Federbett zu beschämen, dass sein Samen in meinen Schoß eindrang und zu Jean, unserem Erstgeborenen wurde.
Ich lächle jetzt, da ich an unsere Ausschweifungen denke.
O Jammer, warum gilt Liebe denn als Sünde … Meine Frau von Bath wusste zu gut, wie süß sie sein konnte.
Meistens gingen wir nach Machecoul in diesen Tagen, aber manchmal reisten wir auch zum l’Hôtel de la Suze, auf der anderen Seite von Nantes. Es war so bequem und behaglich wie alle Häuser Milords, vor allem im Winter; in den kurzen, kalten Tagen des Januar war es dort, auch wenn es keiner erklären konnte, viel weniger zugig als in den meisten anderen seiner Liegenschaften.
Die Rückreise nach Champtocé jedoch war immer viel angenehmer, weil Etienne und ich es als unsere Heimat betrachteten. Meine größten Freuden und die schrecklichsten Kümmernisse hatte ich dort erlebt. Wie töricht war es doch, mich derart von dem Ort in Anspruch nehmen zu lassen, da ich doch keinen solchen Anspruch auf ihn hatte.
Kurz nach Mittag kamen Frère Demien und ich durch das Dorf von Champtoceaux. Es gab dort eine Schänke, in der ich oft mit meinem Gatten abgestiegen war, der gerne jedem Musiker zuhörte, wie schlecht er auch sein mochte. Oft packte er mich dann an der Taille und wirbelte mich im Takt der Trommel herum; meine Röcke flogen auf höchst unschickliche Art, doch ihm war es einerlei – er liebte den Trubel und verlor sich gern darin.
Plötzlich drängte es mich, wieder in diesem Raum zu sein. »Vielleicht gibt es hier Geschichten«, sagte ich laut.
»Geschichten gibt es überall.«
»Bruder, lasst uns hier Erfrischungen zu uns nehmen.«
Er hatte nichts dagegen. Wir banden unsere Tiere vor der ehrwürdigen Einrichtung an, deren Holzschild, auf dem einfach nur Schänke stand, leicht schief an einem gusseisernen Ständer hing, wie schon bei meinem ersten Besuch.
Kaum waren wir eingetreten, sah ich, dass nichts sich verändert hatte, weder der Wirt noch seine dralle Frau, die noch immer durch den Gastraum stolzierte, als wäre sie die Herrin des feinsten Palastes. Ihre Leibesfülle hatte zugenommen, wohl um das Doppelte, wenn ich mich recht erinnere.
Wir legten unsere Umhänge ab und setzten uns einander gegenüber auf Bänke an einem langen Tisch. Der Wirt kam herbei, um uns zu bedienen; er sah mir direkt ins Gesicht, erkannte mich aber nicht, wobei ich allerdings auch damals kaum Stammgast genannt werden konnte, da ich nicht in Champtoceaux selbst wohnte. Dennoch schmerzte es mich kurz, und ich fragte mich, ob wir überhaupt hier hätten einkehren sollen.
»Gott segne Euch, Mutter«, sagte er und verbeugte sich leicht in meine Richtung. »Und Euch auch, Bruder«, sagte er, an Frère Demien gewandt. »Womit kann ich Euch heute dienen?«
»Einen Krug«, erwiderte Frère Demien.
»Und dann ein Wort«, fügte ich hinzu.
»Worüber denn ein Wort?«
»Was hier in dieser Gegend sich ereignet«, sagte ich. »Ich war schon lange nicht mehr hier, früher allerdings des Öfteren.«
Der Mann lächelte schalkhaft und verließ uns für einen Augenblick. Ich schaute mir die anderen Gäste an; in einer Ecke saß ein älterer Mann, dessen Gesicht ich nicht klar erkennen konnte. Er kam mir bekannt vor, ich wusste aber nicht so recht, wo ich ihn hintun sollte. Der Mann war groß und unerhört weißhaarig, was mir aber am meisten an ihm auffiel, waren seine riesigen Hände, in denen das Messer, mit dem er an einem kleinen Holzstück schnitzte, winzig erschien. Seine Finger bewegten sich mit kundigem Feingefühl, und ich war maßlos neugierig, was er wohl schnitzte. Ein Häufchen Schnipsel und Späne lag vor ihm auf dem Tisch. Wenn die Hausherrin hin und wieder vorbeikam, wischte sie mit einer schnellen Handbewegung die anstößigen Späne auf den Lehmboden, wo sie dazu dienten, verschüttetes Bier aufzusaugen.
Ihr Gatte kam mit einem großen Krug Bier und zwei Bechern, die er vor uns hinstellte, an unseren Tisch.
Wir tranken, und der Wirt begann zu erzählen. »Mal sehen, was ist alles geschehen …« Er leierte eine kurze Liste alltäglicher Ereignisse herunter: die Geburt einer Kuh, der Kauf eines Webstuhls, Schädlinge in einem Kirschgarten, ein wenig Klatsch über eine füllige Frau, die ihren dürren Gatten mit bloßen Fäusten verprügelte, weil sie meinte, er sei ihr untreu gewesen. Und dann schaute er mir wieder direkt ins Gesicht und sagte: »Und natürlich muss ich Euch nicht sagen, dass wieder Kinder verschwunden sind.«
Es erfüllte mich mit einer unerklärlichen Freude, dass er mich kannte, auch wenn es mich ein wenig ärgerte, dass mein Ruf wegen meiner Nachforschungen der Grund dafür war und nicht, dass er sich an mich als an einen lieb gewonnenen Gast aus früheren Zeiten erinnerte.
Auf meine augenblickliche Sprachlosigkeit hin sagte er: »Seid Ihr denn nicht die Mutter Äbtissin?«
»Die bin ich«, gab ich zu.
Er schien etwas von mir zu erwarten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.
»Nun, wie viele sind denn hier verschwunden?«
Er schüttelte den Kopf und sagte leise: »Wir können sie schon gar nicht mehr zählen.«
Als Frère Demien Anstalten machte, zu zahlen, wollte der Wirt nichts davon hören. Nachdem er uns verlassen hatte, konnte ich einige Augenblicke nichts anderes tun, als die Holzbretter des Tisches anzustarren. Als ich den Kopf wieder hob, suchten meine Augen den weißhaarigen alten Mann. Er war nicht mehr da.
Als wir Ancenis erreichten – die letzte richtige Stadt auf unserem Weg vor der Gemarkung von Champtocé –, fieberte ich beinahe vor Vorfreude. So viele Erinnerungen warteten dort auf mich. Warum es mich so drängte, den Schorf von einer Wunde zu reißen, die so verheilt war, wie es nicht besser hätte sein können, hatte ich zu verstehen versucht, doch ohne Erfolg. Jean de Malestroit, der einzige Mensch, der mich davon hätte abbringen können, war dieser Aufgabe nicht gewachsen gewesen.
Wir näherten uns der Festung auf der Hauptstraße, die quer durch eine weite, offene Wiese führte. Jeder, der auf den hohen Mauern der Festung Wache hielt, konnte uns sehen – wir waren so hilflos und ungeschützt wie eine Maus, über der eine Eule schwebt. Doch wir hörten keine Warnungen, keine Aufforderungen, uns zu erkennen zu geben. Ich nehme an, der Soldat auf der Mauer sah keine Bedrohung in diesem Paar aus Nonne und Priester, die Frau noch dazu auf einem Esel. Eine nach der anderen kamen die vertrauten Einzelheiten in Sicht. Zuerst sah ich die Reihe der Schießscharten im Südturm knapp unterhalb der Brüstung. Dann erblickte ich das Banner, das im Wind wehte – das von Milord war es gegenwärtig wohl nicht. Gott allein wusste, wem das Schloss im Augenblick gehörte, so oft hatte es in letzter Zeit den Besitzer gewechselt; wir hatten allerdings gehört, dass es René de la Suze gelungen sei, sich den Besitz vom Gläubiger seines Bruders zurückzuholen, wer immer dieser Narr auch sein mochte. Vielleicht wucherte ein wenig mehr Grün am Sockel der Mauern als bei meinem letzten Besuch; ganz allgemein wirkten die Flächen vor dem Burggraben überwuchert und ungepflegt, was angesichts der häufig wechselnden Besitzer zu erwarten war. Einige Steine waren aus der mächtigen Außenmauer herausgebrochen oder standen vor, und die ganze Anlage sah arg vernachlässigt aus.
Doch sie war prachtvoll trotz ihrer Mängel. Schließlich winkte uns einer der Wachposten, wir winkten zurück, um ihm unsere freundlichen Absichten zu zeigen. Das Fallgitter stieg in die Höhe, als wir uns der Zugbrücke näherten. Wie gut erinnerte ich mich an jedes Ächzen der Flaschenzugrolle, wenn Seile das schwere Tor nach oben zogen. Das Herz ging mir über vor Freude, Entsetzen, Unsicherheit, Hoffnung und vielen anderen Empfindungen, deren Namen ich nicht einmal kannte.
Würde ich finden, was ich erhofft hatte?
Nach so langer Zeit schien es eher unwahrscheinlich.
Frère Demien bemerkte meine Ängstlichkeit. »Zerbrecht Euch nicht den Kopf, Schwester. Er wird schon noch hier sein.«
Auf welcher Grundlage außer seiner unerschütterlichen Zuversicht er diese zweifelhafte Behauptung aufstellte, wusste ich nicht, dennoch versuchte ich, seinen Ausspruch als Trost zu nehmen. »Ich beneide Euch um Euer Gottvertrauen, Bruder.«
»Dieser Mann war ein guter Schlossvogt, das habt Ihr mir zumindest gesagt.«
»Aber ohne Verwandtschaft in Adelskreisen und deshalb immer in Gefahr, entwurzelt zu werden, wie ich nur zu gut weiß.«
»Welcher Narr von einem Herrn würde sich eines außergewöhnlich guten Vogtes entledigen, um jemanden an seine Stelle zu setzen, der nichts von den Besonderheiten des Besitzes weiß, nur um einen seiner Gefolgsleute zu beschäftigen?«
»Es gibt viele große Herren, die völlige Narren sind, und Gefolgstreue ist eine mächtige Kraft.«
»Nicht so mächtig, wie sie einst war, ma sœur, und sie wird auch nie so anziehend sein wie Weisheit, für die man nicht bezahlen muss.«
Die Überwürfe der Torwächter trugen das Wappen von René de la Suze, wie wir bereits gehört hatten. Und der Einfluss der Weisheit war während seiner Herrschaft über Champtocé erhalten geblieben, denn der Vogt Marcel lebte noch immer hier.
»Ich hätte mit Euch eine Wette eingehen sollen«, sagte Frère Demien mit einem Grinsen.
»Ihr hättet nicht zur Gänze gewonnen«, gab ich zurück.
»Aber das Ergebnis hätte einen gewissen Lohn verdient, das müsst Ihr zugeben.«
»Aber nicht den vollen Einsatz. Wir haben beide nicht ganz Recht.«
Marcel wohnte in der Tat noch hier, seine Pflichten allerdings waren einem jungen Mann übertragen worden, den René de la Suze ausgewählt hatte. Gilles de Rais’ vernünftiger jüngerer Bruder hatte allerdings den älteren Mann zum dauerhaften Berater seines unerfahrenen Gefolgsmanns ernannt, dem dessen Rat nur nutzen konnte. Zugleich wurde der alte Vogt für seine treuen Dienste belohnt, was nur recht und billig war.
Der kraftstrotzende Mann in mittleren Jahren, der Guy Marcel gewesen war, als ich noch in Champtocé wohnte, war in dem alten Mann, der er nun geworden war, noch immer deutlich zu sehen.
Seine Augen versprühten nach wie vor joie de vivre, sein Schritt war noch immer entschlossen, wenn auch inzwischen etwas kürzer. Darüber hinaus zeigte seine Körperhaltung noch denselben Stolz, an den ich mich so gern erinnerte. Vorhanden war auch noch seine fast übertriebene Höflichkeit, vor allem gegenüber Reisenden.
»Bonjour, mon frère«, sagte er zu Frère Demien, als er auf uns zukam. »A votre service.«
»Merci bien, aber es ist meine Schwester in Christus, die Eurer benötigt, nicht ich«, sagte der junge Mönch.
Guy Marcel wandte sich mir zu und betrachtete mein Gesicht, ohne mich wieder zu erkennen. Dabei starrte er nicht unverhüllt, wie ein weniger höflicher Mann es getan hätte. Stattdessen sagte er: »Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Schwester.«
Ich lachte leise auf. »Ach, Monsieur, ist es schon so lange her?«
»Pardon?«
»Einst nanntet Ihr mich Madame la Drappière«, sagte ich.
Es verschlug ihm beinahe den Atem. »Mon Dieu, Madame, Ihr seid zurückgekehrt!«
Konnte es sein, dass man ihm nicht gesagt hatte, was nach Etiennes Tod mit mir geschehen war? Die Frauen wussten es wahrscheinlich, denn mein Schicksal hätte jede von ihnen treffen können. Aber ich war mit seiner Frau nicht sonderlich befreundet gewesen, als wir beide noch hier wohnten – sie war ein zänkisches Weib und immer übellaunig, deshalb hatte ich sie gemieden, wie er selbst es wohl auch oft tat. Ich fragte mich, ob sie noch am Leben war.
Die Arme weit ausgebreitet, kam er auf mich zu. »Madame«, sagte er herzlich, »es ist wahrlich wunderbar, Euch nach so vielen Jahren wieder hier zu sehen.«
Ich stellte Frère Demien vor und erkundigte mich dann höflich nach der unfreundlichen Gattin. Er sagte mir, dass ihr schon seit Jahren die ewige Ruhe beschieden sei. All dies fand statt, bevor wir überhaupt abgestiegen waren. »Ich will Euch einen Burschen für Eure, äh, Tiere rufen«, sagte Marcel. Er bot mir die Hand an, was mir den Abstieg erleichterte, der ansonsten ziemlich unschicklich geworden wäre. Während unsere Tiere weggebracht wurden, führte er uns Zweibeiner in dasselbe Quartier in der Nähe des äußeren Tores, das Monsieur Marcel schon in dieser früheren Zeit bewohnt hatte. Der neue Vogt hatte es vorgezogen, tiefer innerhalb der Festung zu wohnen, vielleicht um der Sicherheit willen, was verständlich war, denn das erste Gebäude, das bei einem Überfall angegriffen würde, wäre dieses, da es so weit am Rand und ungeschützt lag; die Achillesferse eines jeden Schlosses, wie Etienne gesagt hatte. Aber der alte Mann war vermutlich an die Gefahr gewöhnt und hätte sie vielleicht vermisst, hätte man ihn woanders untergebracht.
Er hieß uns an einem langen Tische Platz nehmen und bot uns Erfrischungen an, die wir sehr gerne annahmen. Dann saßen wir über Gläsern mit Hippokras und einem Teller errötend reifer, frisch vom Baum gepflückter Birnen beisammen. Frère Demien drehte eine in Händen und seufzte bewundernd. »Très belle«, säuselte er die Frucht an. »Magnifique!«
Guy Marcel lächelte freundlich. »Ihre Vollkommenheit ist nicht mein Werk. Wir haben einen hervorragenden Gärtner, der sich um alle unsere Bäume kümmert. Ich weiß nichts von all diesen Dingen, außer wie ich die Früchte der Weisheit und der Arbeit eines anderen genießen kann. Aber man hat mir gesagt, dass die Erde hier auf wunderbare Weise ideal ist für Birnen, und dass darin das Geheimnis liegt.«
»Ich würde gern den Obstgarten sehen und eine Probe der Erde nehmen, wenn ich darf«, sagte Frère Demien.
»Ich werde mich darum kümmern«, erwiderte Marcel und wandte sich dann mir zu. »Und, Madame, wie geht es Euch dieser Tage?«
Er deutete auf das Kreuz, das vor meiner Brust hing. »Ihr steht im Dienst Gottes, wie ich sehe …«
Ich berichtete dem alten Mann von meinem Leben seit meinem Weggang aus Champtocé, doch dieser Bericht dauerte leider nur drei oder vier Atemzüge. Er war so freundlich, daran Anteil zu zeigen, und beglückwünschte mich zu meinem scheinbar so großen Glück.
»Ich glaube, es ist sehr gut, das Vertrauen seines Herrn zu haben.«
»Das dürftet Ihr besser als sonst jemand wissen.«
»Und wie geht es Eurem Sohn, Madame? Wenn Gott mir nicht so viel meines Gedächtnisses geraubt hätte, würde ich mich an seinen Namen erinnern …«
»Jean«, sagte ich. »Er dient Seiner Heiligkeit in Avignon. Ich muss beständig Buße tun wegen meines übergroßen Stolzes deswegen.«
Wir lachten alle ein wenig. Dann gab es keinen Grund mehr, mein Anliegen weiter hinauszuzögern.
»Ich möchte Euch einige Fragen stellen, Monsieur, über meinen anderen Sohn, Michel.«
Als ich den Namen aussprach, schien Guy Marcel ein wenig zurückzuzucken. »Madame«, protestierte er, »es ist schon so viele Jahre her, dass diese Tragödie geschehen ist …«
»Auch ich leide inzwischen unter den Launen des Gedächtnisses. Ich werde Euch eine unvollständige Erinnerung nicht zum Vorwurf machen.«
»Ihr seid noch viel zu jung, um solche Gebrechen zu haben«, sagte er mit freundlichem Lächeln. »Lasst uns von anderen Dingen reden.«
Sein Kompliment schmälerte meine Entschlossenheit nicht, und auch sein reizender Versuch, das Thema zu wechseln, konnte mich nicht von meinem Ziel abbringen. Aber da ich ihm kein Unbehagen bereiten wollte, saßen wir einige Augenblicke schweigend da, und diese Pause im Gespräch schien in besonderer Weise meinen schon so lange toten Sohn zu ehren. Geduldig wartete ich, bis mir die Zeit gekommen schien, weiter in ihn zu dringen.
»Ich möchte Euch nur bitten, mir alles zu erzählen, woran Ihr Euch noch erinnern könnt.«
Der arme Mann wand sich. »Madame, was gibt es da noch mehr zu erfahren. Der Knabe ist einfach verschwunden – wir wissen nicht, warum. Vielleicht war es ja der Angriff eines Keilers, wie Milord Gilles uns berichtete. Aber das kann niemand sagen.« Er schaute zwischen mir und meinem jungen Bruder hin und her und trank dann einen langen Schluck von seinem Hippokras. »Ich wünsche mir aufrichtig, dass Gott Euren Knaben in seinen Armen wiegt, wie ich es auch für mich eines Tages ersehne. In nicht mehr allzu langer Zeit, wie ich befürchte.«
»Als Milord an diesem Tag zurückkehrte, was genau hat er da zu Euch gesagt?«
»Madame, bitte – nach so vielen Jahren kann ich mich an solche Einzelheiten nicht mehr erinnern.«
Obwohl seit Etiennes Tod mehr als ein Jahrzehnt vergangen war, konnte ich mich an den Anblick seines schwärenden Beins noch mit solcher Klarheit erinnern, dass ich es am liebsten aus meinem Gedächtnis verbannt hätte, wenn ein solches Wunder denn möglich wäre. Verzweifelt hatte ich in den Jahren versucht, mich selbst von dem Anblick seines schwarzen Beins zu erlösen, das immer weiter faulte, bis es ihm das Leben nahm. Doch wie ernsthaft ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht: Es verharrt in meiner Erinnerung wie ein Stein, der zu schwer ist, um ihn hochzustemmen und fortzuschleudern. Irgendwo in Guy Marcels Bewusstsein war die Erinnerung daran verborgen, was Gilles de Rais bei seiner Rückkehr von dem Ausflug gesagt hatte, der mir meinen Sohn genommen hatte. Ich würde ihm diese Worte wieder entlocken.
Und das sagte ich ihm auch unmissverständlich. »Monsieur, solche Dinge, wie Ihr sie gehört habt, können nicht aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Ihr müsst nur einen Augenblick nachdenken, dann habt Ihr es wieder deutlich vor Euch, da bin ich mir sicher.«
Er stand auf und ging, ganz offensichtlich aufgewühlt, hin und her, dann setzte er sich wieder. »Madame, bitte.« Er strich mir über die Hand. »Ich bin alt. Ich kann mich nicht erinnern, was so weit in der Vergangenheit passiert ist.«
Ich zog meine Hand unter der seinen heraus und strich nun ihm über den Handrücken. »Bei allem Respekt möchte ich doch behaupten, dass Ihr nicht viel älter seid als ich. Und ich muss Euch daran erinnern, dass Ihr selbst es wart, der seinen Männern befahl, mich von Milord fern zu halten, ich kann mich deshalb nur an Eure Erinnerung halten. Nun bitte, um meines Herzensfriedens willen, versucht es.«
Guy Marcel hatte viele Männer gesehen, die in Schlachten und Kriegen verletzt und verstümmelt worden waren; Guy de Lavals Bauchwunde hatte er selbst in Augenschein genommen. In all diesen Fällen war es ihm immer gelungen, eine ungewöhnliche Ruhe zu bewahren. Doch jetzt, da ich ihn lediglich bat, sich an Worte zu erinnern, wirkte er zermürbt. Ich glaubte nicht, dass sein Unvermögen, sich zu erinnern, ihn beunruhigte, sondern eher der Inhalt der Erinnerung.
Er rieb sich die Stirn, als würde sie schmerzen. »Nun gut«, sagte er gequält. »Ich werde es versuchen.«
Etwas Dunkles schien vom ihm Besitz zu ergreifen, als er zu sprechen anhub. »Die Wachen hörten aus der Entfernung Schreie, deshalb schickte ich augenblicklich weitere Beobachter in den Turm. Als Milord Gilles in Sicht kam, rannte er sehr schnell und in offensichtlicher Pein. Ich ließ sogleich das Tor öffnen. Er kam alleine hindurch und stürzte mir in die Arme. Zunächst keuchte er so, dass er kaum sprechen konnte. Als er seine Stimme wieder gefunden hatte, sagte er, dass der Keiler zurückgekehrt sei, und dass er selbst sich nur umgedreht habe und gelaufen sei. Und dass er geglaubt habe, Michel sei direkt hinter ihm. Aber als er sich umdrehte, habe er ihn nicht gesehen.«
Das hatte ich alles schon einmal gehört, noch am Tag dieses schrecklichen Ereignisses. Deshalb wollte ich mehr wissen. »Sagte er darüber hinaus noch etwas? Er musste doch schrecklich erregt gewesen sein.«
»Mir sagte er nichts weiter. Sein Großvater führte ihn gleich danach weg, damit man ihn beruhigen und ausführlicher befragen könne, wie er sagte. Ich sprach weder mit Milord Gilles noch mit Jean de Craon weiter über die Angelegenheit. Und auch mit sonst niemandem, wenn ich mich denn recht erinnere.«
Der Vogt starrte seine Hände an, die flach auf der Tischplatte lagen, als wollte er sich an ihr verankern. »Er keuchte, Madame. Er sagte kaum mehr außer dem bereits Erwähnten, dass er das Fehlen Eures Sohnes bemerkt habe. Deshalb kann ich nicht sagen, wie sein Gemütszustand genau beschaffen war. Aber Jean de Craon schien davon überzeugt, dass er sehr erregt sei.«
An dem Ausdruck auf Marcels Gesicht sah ich, dass in den Tiefen seiner Seele noch andere Gedanken lauerten. Da war etwas, das er sagen wollte, aber nicht konnte.
»Monsieur, Ihr dürft ganz offen mit mir sprechen. Meine Treue gilt nicht mehr Milord Gilles, sondern Gott und Seiner Eminenz. Fürchtet nicht, dass ich Euch verraten könnte.«
»Madame …«
»Ihr werdet nicht zur Rechenschaft gezogen, gleichgültig, was Ihr mir sagt.«
Einige Augenblicke starrte er ins Leere und wandte sich dann wieder mir zu.
»Madame, vergebt mir, aber ich meinte damals, Milord Gilles für einen kurzen Augenblick lächeln zu sehen.«
»Lächeln? Was meint Ihr mit lächeln?«
»Als wäre er … auf irgendeine Art glücklich oder zufrieden.«
Das war etwas, das ich bis jetzt nicht gewusst hatte; mein Kummer und meine Angst waren zu der Zeit allumfassend gewesen.
Ich hörte den Vogt sagen: »Ich erinnere mich an zwei Gedanken, die ich an diesem Tag hatte. Beide machten mich stutzig. Zum Ersten erschien es mir merkwürdig, dass Milord sich umdrehen konnte und weder Knaben noch Keiler sah. Man würde meinen, dass er den einen oder den anderen hätte sehen müssen. Aber nichts … es kam mir so unwahrscheinlich vor.«
»Und der zweite Gedanke?«
Er räusperte sich verlegen. »Ich weiß auch noch, dass ich während des ganzen Martyriums den Eindruck hatte, Milord sei eher … erregt denn bestürzt. Ich muss sagen, es passte zu seinem Lächeln.«
Ich zog mein mouchoir hervor und wischte mir ohne Scham die Tränen aus den Augenwinkeln. »War an Milord Blut zu sehen?«
Er hielt inne, um in seiner Erinnerung zu forschen. Nach einigen Augenblicken sagte er: »Ja. Auf seinem Umhang, in der Mitte. Und seine Kleidung war in Unordnung; ich nahm an, dass er gestürzt war, sich dabei geschnitten und sich dann möglicherweise die Hände an seiner Kleidung abgewischt hatte. An den Händen hatte er etwas Blut, aber sie waren zerschnitten und zerschunden. Er gab an, er habe sich beim Rennen durch den Wald verletzt, als er die Äste beiseite schob. Das schien mir eine vernünftige Erklärung. Dies sagte er aus eigenem Antrieb.«
Als ich einige Tage später seine Hände zum ersten Mal aus der Nähe sah, waren die Innenflächen ganz verschorft. Die Hebamme hatte Salben und Tinkturen aufgetragen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, aber Milord hatte wegen eines besonders tiefen Schnitts in der rechten Hand Schwierigkeiten, eine Faust zu ballen. Er wollte die Hand nie öffnen, damit ich mir die Wunde genauer hätte betrachten können; es sei zu schmerzhaft, behauptete er. In meinem Kummer brachte ich die Willensstärke nicht auf, ihn dazu zu drängen.
Ich lehnte mich für einen Augenblick zurück und versuchte, mich zu erinnern, was er an diesem Tag getragen hatte; eine Einzelheit, die tief in meinem eigenen Gedächtnis vergraben war. Das Bild eines dunkelblauen Umhangs und eines gelben Rocks drängte an die Oberfläche. Beides war wohl an einen rangniedrigeren Verwandten weitergegeben worden, falls das Blut sich nicht vollständig hatte entfernen lassen. Keine der Waschfrauen hatte etwas erwähnt. Ich fragte mich, ob diese beiden Kleidungsstücke je durch ihre Hände gegangen waren.
»Und von den Waldarbeitern, die an diesem Tag unterwegs waren, hatte keiner bei seinen Streifzügen irgendetwasUngewöhnliches gehört. Alle wussten, was im Wald vorgefallen war, aber keiner sagte etwas.«
Dass Waldarbeiter unterwegs waren, hatte ich bis jetzt nicht gewusst. Mein Sohn war für sein zartes Alter ein tapferer Junge gewesen, abenteuerlustig und kühn – kein Knabe, der sich von einem Keiler hätte einholen lassen, ohne zu rennen, zu schreien, alles zu tun, um den Angriff abzuwehren. Er war bestimmt nicht sofort gestorben, er hätte geschrien und um Hilfe gerufen. Jemand hätte ihn hören müssen.
Hatte Milord seine Schreie gehört, ihn aber seinem Schicksal überlassen?
»Monsieur, kommt es oft vor, dass Keiler ihre Opfer fressen?«
Der Mann wich meinem Blick aus.
»Monsieur?«
»Nein, Madame, das tun sie nicht. Es sind zornige Tiere, aber wenn Sie töten, dann meistens nur zur Selbstverteidigung.«
Zum tausendsten Mal stellte ich mir nun die Frage, die mich seit diesem schrecklichen Tag quälte. Als sie es bis zu meinen Lippen geschafft hatte, ließ ich sie mit einem leisen Aufstöhnen entweichen. »Warum, ach warum wurde Michels corpus dann nie gefunden?«
»Das bleibt ein unergründliches Rätsel, Madame.«
Ein Suchtrupp hatte sich sofort auf den Weg gemacht, darunter auch Etienne. Jedes Pferd im Stall erhielt einen Reiter; zu diesen Reitern gehörte ebenfalls unsere Hebamme Madame Catherine Karle, die sich um die Wunden meines Sohnes kümmern sollte, so man ihn verletzt fand.
Sie blieben aus, bis das letzte Licht des Tages verschwunden war. Alle kehrten in offensichtlicher Erregung zurück. Aber Madame Karle, die sonst in den Klang ihrer Stimme verliebt war, hatte sich ungewöhnlich einsilbig gezeigt, sogar mir gegenüber, und sie blieb es auch fast zwei Wochen lang.
Als ich diese Merkwürdigkeit nun dem Vogt berichtete, entgegnete er: »Ja, ich erinnere mich auch, dass sie eine Zeit lang sehr mürrisch wirkte.«
Als unsere bedrückende Unterhaltung nicht weitergehen konnte, starb sie eines natürlichen Todes. Wir versuchten, unsere Stimmung mit einem köstlichen Mahl aus Wachteln und escargots samt weißen Rüben und knusprigem Brot zu heben. Hippokras floss wie Wasser aus der Karaffe, die er auf den Tisch gestellt hatte, und ich glaube, wir hätten wohl auch den Satz getrunken, so eifrig waren wir darauf bedacht, sie leer zu sehen. Der alte Mann erzählte nur zu gerne von den Abenteuern, die er in den Jahren seit unserer letzten Begegnung erlebt hatte, und unseren Herzen tat es wohl, Geschichten zu hören, die nichts mit dem unerklärlichen Verlust eines Kindes zu tun hatten.
Unsere Rückreise nach Nantes würde lange dauern; es wurde erwartet, dass wir in Champtocé übernachteten, und unser Gastgeber war so freundlich, uns in seinem eigenen Quartier unterzubringen. Das ist gut so, dachte ich, und vielleicht hatte er es auch selbst erkannt: In den Haupträumen des Schlosses warteten zu viele Geister auf mich, und weder wollte ich mich von ihnen quälen noch von den gegenwärtigen Bewohnern mustern lassen, was beides mit Sicherheit geschehen wäre, hätte ich auch nur einen Fuß in diese Mauern gesetzt. All unsere Bedürfnisse waren befriedigt, und ich ging dankbar betrunken zu Bett, ohne vorher zu beten.
Als Antwort auf meine Nachlässigkeit suchte Gott mich mit grässlichen Träumen in der Nacht und dröhnenden Kopfschmerzen am nächsten Morgen heim, die auch kaltes Wasser aus dem Becken nicht lindern konnte. Auch half es nicht viel, dass Frère Demien mir seine warmen Hände auf die schmerzende Stirn drückte, obwohl er noch einen wortreichen und überschwänglichen Segensspruch hinzufügte. Mit einem verständnisvollen Lächeln und einem merkwürdigen Gemurmel über das Vertreiben eines Katers nötigte unser verehrter Gastgeber mir einen frischen Becher Hippokras auf, der eine ganz wundersame Heilung bewirkte. Und noch wundersamer war, dass er mich nicht betrunken machte.
»Aber jetzt, da Ihr mich wiederhergestellt habt«, sagte ich, »muss ich noch einen Gefallen von Euch erbitten.«
Er wirkte nicht erfreut, blieb aber dennoch höflich. »Oui, Madame.«
»Wenn wir zu den Obstgärten gehen, möchte ich, dass Ihr uns auch zu dem Hohlweg bringt, wo Milord Michel das letzte Mal gesehen haben will.«
Die Bitte schien ihm nicht so recht zu behagen, denn er runzelte leicht die Stirn. »Was ist damit gewonnen, Madame?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Aber ich fühle mich gezwungen, dorthin zurückzukehren.«
Es gab keinen vernünftigen Grund für eine Weigerung, und so willigte er ein. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten, schnallten sie auf unsere Reittiere und ritten dann in die Richtung der Obstgärten. Während dieser ganzen Zeit sprach Frère Demien unaufhörlich über die Pflege von Obstbäumen. Die ersehnte Hand voll Erde wurde von meinem jungen Reisebegleiter ausgegraben und sorgfältig untersucht, indem er an ihr roch, sie probierte, zwischen den Fingern zerrieb und mit seinem Speichel vermengte, alles, um ihr ihr Geheimnis zu entlocken. Doch seine abschließende Bemerkung nach alledem lautete nur: Hmmm. Ich wunderte mich, sagte aber nichts, da meine Gedanken woanders waren.
Wir verließen den Obstgarten auf einem Pfad in Richtung Westen und ritten ein kurzes Stück. Bald erreichten wir das markante Eichenwäldchen und bogen dort auf einen neuen Pfad ein, dem wir ein noch kürzeres Stück folgten, bis er plötzlich sehr steil nach unten führte.
Kurz unterhalb der Hügelkuppe, etwa die Körperlänge eines Mannes, war das kleine weiße Kreuz, das Etienne in die Erde gesteckt hatte, um die Stelle zu kennzeichnen, wo unser Kummer begonnen hatte, obwohl wir nicht genau sagen konnten, wo es war. Er hatte mich hierher geführt, kurz nachdem er es aufgestellt hatte; und ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob dieses Kreuz das einzige Memento meines Sohnes sein würde und nicht die Legenden und Berichte über Heldentaten, die wir uns erhofft hatten.
Ich starrte das Symbol seines Gedenkens an, so weiß und strahlend vor dem Grün und Braun der Umgebung. Obwohl es schon seit vielen Jahren ungeschützt an dieser Stelle stand, wirkte es erstaunlich frisch.
»Jemand muss sich darum gekümmert haben.«
»Oui, Madame«, sagte Marcel leise. »Wir kommen hin und wieder mit Tünche hierher.«
Ich konnte meine Dankbarkeit kaum in Worte fassen. In der andächtigen Stille wirkte das Plätschern des Baches am Grund des Abhangs wie eine unheilige Ausgelassenheit.
Schließlich fragte ich: »Steigt der Bach im Frühling stark an?«
»Ein ziemliches Stück.«
»Und im Herbst – trocknet er aus?«
»Soweit ich weiß nicht, Madame. Wir hatten in diesem Monat nur wenig Regen, und dies ist normalerweise die trockenste Zeit, also wird er kaum viel flacher werden, als Ihr ihn jetzt seht.«
Ich sah, wie das klare Wasser sich über den Steinen kräuselte. Es war mehr als genug, um Blut abzuwaschen.
Auf der Straße, die an der Wiese vor dem Schloss entlangführte, verabschiedeten wir uns von Guy Marcel; wir würden nach Westen in Richtung Nantes reiten, und er in die Gegenrichtung zu seinem Haus in der Festung. Frère Demien wünschte unserem Gastgeber ehrerbietig alles Gute, aber ich brachte nur eine zärtliche Melancholie zustande – der Vogt war eine der wenigen noch verbliebenen Verbindungen zu Champtocé, und Gott allein wusste, ob wir uns wiedersehen würden, bevor einer von uns ins Grab fuhr. Auch in den Augen dieses alten Mannes sah ich ein wenig von meiner Sehnsucht nach diesen früheren Tagen, nach einer Wiederholung der ruhmreichen Zeit, die wir einst gehabt hatten, eine Vorstellung, deren Unmöglichkeit ihr nichts von ihrem Reiz nahm.
Wir hatten etwa hundertdreißig Ellen in gegensätzlichen Richtungen zurückgelegt, als ich den Vogt rufen hörte: »Madame! Wartet!«
Ich brachte meinen Esel zum Stehen und drehte mich zu ihm um. Die mächtige Festung ragte hinter ihm in die Höhe und ließ ihn mit ihrer welkenden Pracht winzig erscheinen.
»Oui, Monsieur?«
Er trieb sein Pferd ein paar Schritte in meine Richtung, um nicht schreien zu müssen. »Die Hebamme, Madame Karle …«, hub er an. Dann zögerte er einen Augenblick, als überlegte er, ob es überhaupt ratsam sei zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. »Sie selbst kann unmöglich noch am Leben sein, aber Ihr Sohn könnte durchaus noch auf Erden wandeln.«
Ich erinnerte mich noch gut an ihn. »Guillaume«, sagte ich.
»Oui, ebenjener.« Er sagte uns, wo der Mann wohnte, nicht weit von unserem Weg entfernt. »Vielleicht solltet Ihr ihn aufsuchen.«